Die Aussagen des Ökonomen Prof. Dr. Matthias Schrappe und Kollegen in der WELT sorgen für Empörung. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) e.V., der Marburger Bund Bundesverband und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) e. V. weisen die irreführenden Vorwürfe vom Spiel mit der Angst, von der Manipulation offizieller Statistiken und sogar die Unterstellung, rein aus finanziellem Interesse Patienten intensivmedizinisch zu behandeln, aufs Schärfste zurück. Auch die Behauptung, die Krankenhäuser hätten zu Unrecht Fördergeld für nie aufgebaute Intensivbetten kassiert, ist nicht haltbar. Viele der Anwürfe Schrappes basieren auf Fehleinschätzungen und mangelnder Kenntnis der tatsächlichen Lage in Kliniken.
Sein Vorwurf, es sei Angst geschürt worden, verkennt die Situation des Frühjahrs 2020. Tatsächlich herrschte im März des vergangenen Jahres Angst davor, dass zahlreiche Patientinnen und Patienten nicht mehr ausreichend versorgt, insbesondere beatmet, werden könnten. Die Sorge war angesichts der Situation in Italien, Frankreich und vielen anderen Ländern begründet. Die Politik hat folgerichtig den Aufbau so vieler Intensivbetten wie möglich beschlossen. Dass diese Intensivplätze nicht flächendeckend mit hochqualifiziertem Pflegepersonal betrieben werden konnten, war allen bewusst. Tatsächlich haben aber in allen Bundesländern Kurzlehrgänge stattgefunden, in denen Pflegekräfte auch ohne Intensivpflegefortbildung auf die Versorgung von Beatmungspatienten vorbereitet wurden. Die Krankenhäuser wären somit in der Lage gewesen auch die sogenannte Intensivbetten-Notfallreserve zu betreiben.
Zuerst aber gilt, dass ein Intensivbett nicht nur das vorhandene Bett mit Beatmungsgerät ist. Es geht um die Anzahl tatsächlich betreibbarer Betten – auch im Krankenhausfinanzierungsgesetz steht dieser Begriff. Ein intensivmedizinischer Behandlungsplatz gilt als betreibbar/betriebsfähig, wenn ein vorgesehener Raum, funktionsfähige Geräte und Material pro Bettenplatz, Betten, und personelle Besetzung mit pflegerischem und ärztlichem Fachpersonal vorhanden sind und eingesetzt werden können. Außerdem wird dabei noch nach den drei Versorgungsstufen low-care, high-care und ECMO unterschieden. Bei letzterer wird Blut von Patienten mit schwerem Lungenversagen in einer Maschine mit Sauerstoff angereichert – eine Art externe Lunge.
Für den Rückgang der Intensivbettenzahl im weiteren Verlauf des Jahres gibt es mehrere Gründe. Bereits Anfang August 2020 kam es im DIVI-Intensivregister zu einem Rückgang der Intensivbettenzahl. Dieser ist auf eine Änderung bei der Abfrage der intensivmedizinischen Kapazitäten sowie dem Einsetzen der Pflegepersonaluntergrenzen zurückzuführen. In der Konsequenz haben zahlreiche Kliniken ihre Bettenmeldungen an diese Personalvorgaben angepasst. Außerdem werden seitdem die Notfallreservekapazitäten separat abgefragt. Die Angaben zur Anzahl der freien betreibbaren Bettenkapazitäten haben sich in den folgenden Meldungen entsprechend reduziert. Die Daten legen nahe, dass ein Teil der vorher gemeldeten freien Bettenkapazitäten nun als Notfallreservekapazität gemeldet wird. Die Notfallreserve kann stückweise aktiviert werden, indem andere Behandlungen abgesagt bzw. verschoben werden.
Der Vorwurf, offizielle Statistiken im Nachhinein manipuliert zu haben, kann ebenfalls direkt entkräftet werden. Das DIVI-Intensivregister hat im Verlauf der Pandemie die Betten der Kinderintensivstationen aus der Gesamtzahl der betreibbaren Betten herausgerechnet – Betten auf der Frühchenstation (NICU) und schwerstkranke Kleinkinder (PICU). Diese spielen für die Versorgung von COVID-19-Patienten keine Rolle. Auf die Veränderung der Darstellung reiner Erwachsenenbetten wird in sämtlichen Statistiken aber auch explizit hingewiesen.
Wie weit Schrappe von der Versorgungswirklichkeit weg ist, zeigen allein zwei Aussagen. So fragt er, warum man nicht Personal qualifiziert hätte, um im Fall der Fälle auf Intensivstation aushelfen zu können und sagt, man hätte außerdem Operationen verschieben müssen. Tatsächlich wurden elektive Leistungen in großer Zahl verschoben. Zeitweise haben die Krankenhäuser 40 Prozent weniger operiert als in normalen Jahren. Dies belegen Studien des wissenschaftlichen Institutes der AOK (Wido), aber auch wissenschaftliche Analysen des Corona-Beirats beim Bundesgesundheitsministerium. Und natürlich haben die Kliniken Personal so schnell es ging für den Einsatz auf Intensivstationen qualifiziert, um auf Notfallsituationen vorbereitet zu sein. Mit dem Einsatz gemischter Teams aus Kranken- und Intensivpflegefachkräften haben die Krankenhäuser ein Konzept geschaffen, um auch in absoluten Ausnahmesituationen noch eine gute Versorgung zu gewährleisten.
Alle Beteiligten haben immer für eine besonnene Diskussion plädiert. Es ging nie um Panik oder Angstmache, sondern immer um Vorsicht. Es ging vor allem um die Versorgung schwerkranker Patienten, es ging darum, Krankenhäuser vor Überlastung zu bewahren und auf extrem steigende Patientenzahlen in kurzer Frist dennoch vorbereitet zu sein. Diese Situation retrospektiv mit dem heutigen Wissen zu bewerten, wird den damaligen Entscheidungsnotwendigkeiten nicht gerecht.
Gänzlich unbelegt ist der Hinweis, im internationalen Vergleich habe die Versorgung der COVID-Patienten in Deutschland unangemessen häufig in den Intensivstationen stattgefunden. Dies ist eben gerade die Stärke der deutschen Krankenhausstrukturen, schwerkranke Patienten adäquat intensivmedizinisch zu versorgen und dadurch Leben zu retten. Wer daraus eine „Fehlversorgung“ konstruiert, müsste gleichzeitig Daten vorlegen, dass die Behandlungsergebnisse in anderen Ländern gleich gut oder sogar besser waren.
Ein wirklicher Schlag ins Gesicht der Ärztinnen und Ärzte und der Pflegekräfte in den Krankenhäusern ist deshalb Schrappes Vorwurf, dass Patientinnen und Patienten ohne Not auf Intensivstationen gelegt worden wären. Pflegekräfte und Ärztinnen und Ärzte haben in den vergangenen Monaten unter höchster Belastung große Leistungen vollbracht. Jeder Intensivpatient, der nach oft monatelanger höchst anspruchsvoller Behandlung wieder auf eine Normalstation verlegt werden konnte, bedeutete nicht nur ein gerettetes Leben, sondern auch etwas mehr Entlastung für die Beschäftigten.