Viele
Frauen im gebärfähigen Alter bekommen potenziell kindsschädigende Arzneimittel
verordnet, auch Teratogene genannt. Allein bei der BARMER waren im Jahr 2018
fast 154.000 Frauen zwischen 13 und 49 Jahren davon betroffen. Problematisch
wird deren Einnahme ab dem Beginn der Schwangerschaft. Im ersten
Schwangerschaftsdrittel bekamen 663 von rund 66.500 BARMER-Versicherten mit
Entbindung im Jahr 2018 Teratogene verordnet. Das geht aus dem
Arzneimittelreport 2021 hervor, den die BARMER am Donnerstag vorgestellt hat.
„Die grundsätzliche Verordnung von Teratogenen vor einer Schwangerschaft ist
nicht das Problem. Vor allem dann nicht, wenn verhütet wird. Spätestens mit
Eintritt der Schwangerschaft darf aber kein Teratogen mehr zum Einsatz kommen.
Genau genommen muss der Schutz des ungeborenen Kindes bereits davor beginnen“,
sagte der Vorstandsvorsitzende der BARMER, Prof. Dr. med. Christoph Straub.
Deshalb sollten auch Frauen im gebärfähigen Alter mit Dauermedikation einen
Rechtsanspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan erhalten. Damit
könne das Risiko für das ungeborene Leben bei einer notwendigen teratogenen
Medikation massiv reduziert werden. Derzeit werde die Arzneimitteltherapie
unzureichend dokumentiert. Das führe zu gefährlichen Informationslücken zu
Beginn der Schwangerschaft. Vor allem für Gynäkologinnen und Gynäkologen sei es
schwer bis unmöglich, rechtzeitig Teratogene abzusetzen.
Nur wenige Frauen haben Medikationsplan
Laut Arzneimittelreport dürften rund 30 Prozent der Frauen vor einer
Schwangerschaft regelmäßig Arzneimittel einnehmen. Allerdings besitzt offenbar
nur eine kleine Minderheit einen Medikationsplan. Das legt eine vertiefende
Umfrage für den Arzneimittelreport nahe. Befragt wurden dabei knapp 1.300
BARMER-Versicherte, die im vergangenen Jahr entbunden haben. „Der Schutz des
ungeborenen Kindes muss schon vor der Schwangerschaft beginnen. Dazu sollte die
Gesamtmedikation junger Frauen grundsätzlich auf kindsschädigende Risiken
geprüft werden. In der Schwangerschaft kommt ein Medikamenten-Check zu spät, um
das ungeborene Kind vor Schäden zu schützen“, sagte der Autor des Arzneimittelreports,
Prof. Dr. med. Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken. Nun seien nicht
alle riskanten Wirkstoffe im selben Maße gefährlich. Es gebe aber starke
Teratogene, die das Risiko für grobe Fehlbildungen des Embryos verzehnfachten.
Das hieße, bis zu 30 Prozent der ungeborenen exponierten Kinder könnten eine
Schädigung erleiden. Dennoch hätten im Jahr 2018 mehr als 11.000
BARMER-versicherte Frauen im gebärfähigen Alter ein starkes Teratogen verordnet
bekommen, und auch während der Schwangerschaft habe es Einzelfälle gegeben.
„Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte passen die Arzneimitteltherapie an die
Schwangerschaft zwar sehr wohl an. Das belegen die zurückgehenden
Verordnungszahlen von Teratogenen. Allerdings liegen die Absetzquoten bei den besonders
kritischen Präparaten lediglich zwischen 31 und 60 Prozent. Das ist viel zu
wenig“, sagte Grandt. Gerade der Einsatz stark fruchtschädigender Arzneimittel
sei in keinem Fall vertretbar, wenn es gleichwertige und sicherere Alternativen
gebe.
Teratogen-Einsatz muss in Frühschwangerschaft „never event“ werden
Wie aus dem Arzneimittelreport weiter hervorgeht, bekommen Frauen auch im
späteren Verlauf der Schwangerschaft Arzneimittel mit Risiken der Schädigung
des ungeborenen Kindes verordnet. Demnach traf dies auf 1.210
BARMER-versicherte Frauen mit Entbindung im Jahr 2018 zu. „Zu einem späten
Zeitpunkt der Schwangerschaft sind solche Arzneimittel im Einzelfall eventuell
akzeptabel, weil die Gefahr für Missbildungen und Schädigungen des Kindes dann
etwas geringer ist. Deren Verabreichung muss dann aber zwingend im
Medikationsplan stehen“, forderte Grandt. Für einen bestmöglichen Schutz sei
ein weiterer Schritt erforderlich. In Großbritannien etwa gelte das
Verschreiben eines teratogenen Arzneimittels in der Schwangerschaft als „never
event“. Das seien Ereignisse, die grundsätzlich vermeidbar seien und solche
katastrophalen Konsequenzen hätten, dass sie nie auftreten dürften. „In
Deutschland muss die Verordnung teratogener Arzneimittel ebenfalls zum ,never event‘
werden, zumindest in der Frühschwangerschaft“, sagte BARMER-Vorstandschef
Straub.
BARMER-Projekte sollen kindsschädigende Verordnungen reduzieren
Die BARMER treibe mehrere Innovationsfondsprojekte voran, bei denen es auch
darum gehe, dass riskante Verordnungen bei Schwangeren zu „never events“
würden, so Straub. Das neueste geplante Projekt eRIKA solle etwa dafür sorgen,
dass die Ärztin oder der Arzt bereits beim Ausstellen eines Rezeptes
Transparenz zur Gesamtmedikation erhalte. Hier arbeite die BARMER neben
Ärzteschaft und Apotheken mit der Berliner Charité zusammen. Für Frauen im
gebärfähigen Alter würden die Ärztinnen und Ärzte im Rahmen von eRIKA so zum
Zeitpunkt der Verordnung automatisch Hinweise auf Arzneimittel erhalten, die in
der Frühschwangerschaft problematisch seien. Weiterhin könne eine
patientenfokussierte digitale Anwendung bereitgestellt werden, um ergänzend
Schwangeren oder Frauen, die eine Schwangerschaft planen, derartige
Warnhinweise zu geben.
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