Es ist etwas mehr als zwei Jahre her, dass die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut (RKI) das DIVI-Intensivregister aus der Taufe hob. Tagesaktuell sind hierdurch die Kapazitäten jeder Intensivstation mit Akutversorgung abrufbar, können Patientenströme gelenkt und Engpässe frühzeitig erkannt werden. Auch zeigen die Langzeitdaten des Registers deutlich, wo wir heute in der Pandemie stehen und wie stark das Personal in der Klinik belastet ist. „Ein Paradebeispiel, wie wichtig die Digitalisierung für unser Gesundheitssystem ist“, resümiert DIVI-Präsident Prof. Dr. med. Gernot Marx (Foto) am heutigen Tag der Intensivmedizin im Interview. Ein Gespräch über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Herr Prof. Marx, das DIVI-Intensivregister ist heute beinahe jedem in der Republik ein Begriff. Was bedeutet das für die Intensivmedizin? „Die Intensivmedizin hat schon durch die Pandemie an sich deutlich mehr Wahrnehmung in der Bevölkerung erlangt. Vorher wurde dieser Teil der Medizin glaube ich vor allem mit Apparaten, Schläuchen und Tod in Verbindung gebracht. Jetzt steht er für Möglichkeiten, die wir ausschöpfen können, um kritisch Kranke zurück ins Leben zu bringen. Das Intensivregister hat durch seine täglich verfügbaren Daten ein Wesentliches zu dieser Wahrnehmung und Bedeutung beigetragen – weil wir hierdurch die Auswirkungen von COVID-19 mit Blick auf die Bettenbelegung der Intensivstationen darstellen konnten.“ Das Register ist ja zu Beginn der Pandemie in wahnsinniger Geschwindigkeit aufgebaut worden – Tag und Nacht, weil es dringend gebraucht wurde… „Richtig! Das Intensivregister ist in sehr kurzer Zeit und durch sehr viel Engagement der Verantwortlichen am RKI, insbesondere Dr. med. Linus Grabenhenrich und Dr. rer. nat. Martina Fischer sowie weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und aus der DIVI durch unsere beiden medizinisch-wissenschaftlichen Leiter, Prof. Dr. med. Christian Karagiannidis und Prof. Dr. med. Steffen Weber-Carstens, PD. Dr. med. Mario Menk und unser damaliger Präsident, Prof. Uwe Janssens, aufgebaut worden. Sie alle haben sich im Februar und März 2020 bis tief in die Nacht in Videokonferenzen besprochen, Aufgaben verteilt und Bedürfnisse abgeglichen, um dann in sehr kurzer Zeit Geldmittel beim Gesundheitsministerium zu beantragen, ein Team zusammen zu stellen, Dienstleister zu rekrutieren und ein Register zu programmieren, die Krankenhäuser bei der Registrierung und bei der Handhabung des Registers zu betreuen und so ein funktionierendes Meldesystem aufzubauen.“ Aber warum unbedingt ein Intensivregister? „Nun, der DIVI wie auch dem RKI war in den Wochen vorher sehr deutlich geworden, dass die intensivmedizinische Versorgung – und hier konkret die maschinelle Beatmung von COVID-19-Patienten – ein großes Problem in schwer betroffenen Ländern wie China oder Italien dargestellt hat. So haben wir zur Vernetzung der Krankenhäuser und ihrer Intensivstationen gemeinsam ein System entwickelt, um deutschlandweit die Kapazitäten auf den Intensivstationen tagesaktuell darzustellen. Im Zuge der H1N1-Pandemie im Jahr 2009 hatten die Kollegen Karagiannidis und Weber-Carstens bereits ein deutschlandweites Netzwerk innerhalb der DIVI aufgebaut, in dem immerhin rund 80 Kliniken ihre Behandlungskapazitäten für Patienten mit akutem Lungenversagen tagesaktuell anzeigen konnten. Diese Basis wurde für das neue DIVI-Intensivregister genutzt. Am 17.03.2020 ging es erstmals online.“ Seither hat die Verfügbarkeit der Daten durch die täglichen Meldungen der Intensivstationen einiges ermöglicht. „Ohne die Daten aus dem Intensivregister hätten wir keinen Überblick über die tatsächlichen Kapazitäten auf den Intensivstationen gehabt. Und ohne diesen Überblick wäre in der akuten Situation auch nicht deutlich geworden, wie belastet manche Regionen durch die Vielzahl zusätzlicher COVID-19-Intensivpatienten waren. So konnten wir in Deutschland aber in Ruhe und ohne Hektik die strategische Verlegung einiger Patienten aus Hotspots planen und umsetzen. Aus Bayern, Thüringen und Sachsen wurden Patienten in ganz Deutschland verteilt, um für akute Notfälle wieder Kapazitäten zu haben – für die man im Notfall nicht mehrere Stunden entfernt liegende Klinik ansteuern kann. Für diese Lenkung von Patientenströmen beneiden uns viele andere Krisenstäbe im Ausland.“ Auch der Blick in die Zukunft wurde ja durch die Daten in der Krisensituation möglich. „Das hat mich über alle Maßen beeindruckt! Im Frühjahr 2021, mitten in der zweiten Welle und in Erwartung der dritten, ist es unserem Mathematiker, Herrn Prof. Dr. Andreas Schuppert von der RWTH Aachen mit dem DIVI-Prognosemodell gelungen, durch die Daten des DIVI-Intensivregisters die Auswirkungen von einem möglichen Lockdown oder weniger drastischen Maßnahmen mit Blick auf die Belegung der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen vorherzusagen. Da er tagesaktuell die Modellierungen anhand der tatsächlichen Daten abgleichen konnte, wurde das Modell von Tag zu Tag noch exakter. Wir Intensivmediziner wussten daher sehr genau, was uns in den nächsten zwei bis vier Wochen erwartet. Das war für die Kliniken in einer Ausnahmesituation und die Patientenversorgung und -sicherheit von enormer Bedeutung. Parallel weist das DIVI-Intensivregister im Login-Bereich ebenfalls bis heute Modellierungen aus, die vom Institut für Medizinische Biometrie und Statistik (IMBI) der Uni Freiburg, dem Projekt „SPoCK“, stammen. Auf diese Vorhersagen können viele tausend Menschen täglich zugreifen und ihre aktuellen Entscheidungen entsprechend mit den Erwartungen für die nächsten Wochen abgleichen – und eben eventuell anpassen.“ Aber nicht nur für die Pandemie ist das DIVI-Intensivregister ein wichtiges Werkzeug. „Nein, natürlich nicht. Wir Intensivmediziner – und damit natürlich das Gesundheitssystem im Ganzen – profitieren grundsätzlich von der Verfügbarkeit der Daten, die ja tagesaktuell, wie auch als Zeitverläufe der vergangenen zwei Jahre, zur Verfügung stehen. Bitte führen Sie sich vor Augen: Bis heute ist das Betreiben des Registers eine tagfüllende Aufgabe. Wir alle halten dieses für wahnsinnig wichtig – deshalb sind bis heute unsere medizinisch-wissenschaftlichen Leiter ehrenamtlich auch weiter hochengagiert. Es braucht zum Beispiel nur einen Blick auf die Kartendarstellung im DIVI-Intensivregister: Schon wird deutlich, dass selbst ohne eine Vielzahl an COVID-19-Patienten die Betten in Großstädten und Ballungsräumen auf den Intensivstationen stark ausgelastet sind. Hier können sich immer weniger Pflegekräfte das Leben und Arbeiten leisten – wir verlieren das Personal und damit die Möglichkeit Betten auf den Intensivstationen zu betreiben, also letztendlich Kapazitäten im Gesundheitssystem. Alle Verantwortlichen, vom Pflegedirektor bis hin zu unserem Gesundheitsminister, sehen und wissen das. Entsprechend können, müssen und werden jetzt auch Maßnahmen ergriffen werden.“ Wie wird sich das DIVI-Intensivregister entsprechend entwickeln, auch wenn derzeit die Intensivmedizin für die Pandemie nicht mehr im absoluten Fokus steht? „Das Register hat wie gesagt Bedeutung für jeden Intensiv- und Notfallmediziner erlangt, wie auch für die Verantwortlichen in der Klinik und in der Politik. Derzeit arbeiten DIVI, RKI und das Bundesgesundheitsministerium gemeinsam daran, das Intensivregister mit anderen Meldesystemen zu verknüpfen, damit einige Daten nur noch einmal gemeldet werden müssen und über Schnittstellen die Informationen zwischen Meldesystemen geteilt werden. Teilweise verschlanken wir auch Fragen, weil diese nicht mehr für die Patientenversorgung relevant sind – wie das Corona-Virus passen wir uns auch in Punkto Abfrage an. Weiterhin gibt es also viel zu tun und sind viele Menschen im Vorder- wie im Hintergrund damit beschäftigt, das DIVI-Intensivregister aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.“ Also ein absolutes Zukunfts-Projekt? „Die Verstetigung von Instrumenten, die wir in der Akutphase der Pandemie entwickelt haben und die sich als extrem wichtig und hilfreich zeigen konnten, ist die beste Vorbereitung auf alles, was noch kommen wird – also auch auf die aktuelle Frage nach dem ‚wie wird der Herbst 2022?‘. Die Verfügbarkeit von Daten, die digitalisierte Medizin, ist vor allem in der Intensivmedizin gut umsetzbar und ein richtiger Schritt in die Zukunft. Hier ist das DIVI-Intensivregister ein Paradebeispiel. Aber auch telemedizinische Netzwerke und damit eine vernetzte Versorgung der Intensivpatienten an jedem Standort nach höchstem Standard sind wichtige Errungenschaften der Intensivmedizin, die wir jetzt dringend in die reguläre Versorgung überführen müssen. Hierfür setzen wir uns als DIVI ein, als Sprachrohr für alle Intensiv- und Notfallmediziner und natürlich für unsere Patienten.“ |