IKK e.V.

Halbzeitbilanz der Ampelkoalition: IKKn fordern die Regierung auf,den Reformstau im Gesundheitswesen zu beenden

Berlin, 4. September 2023

Letztlich bleibt der Ampelkoalition kaum länger als ein gutes Jahr, um wichtige Reformen im
Gesundheitswesen anzugehen und durch den Bundestag zu bringen, bevor sich das
gesetzgeberische Zeitfenster im Vorfeld der kommenden Bundestagswahl schließt. Die Zeit
ist also knapp bemessen, fällt doch die bisherige Bilanz eher bescheiden aus. Statt
Fortschritt, wie die Koalition zu Amtsbeginn ankündigte, ist gerade in der Gesundheitspolitik
ein akuter Reformstau unübersehbar. Dieses Fazit ziehen die Innungskrankenkassen im
Rahmen ihrer heutigen Pressekonferenz in Berlin. Folgerichtig ist das Vertrauen der
Versicherten in die Gesundheitspolitik in der ersten Halbzeit der Ampelkoalition auf einen
Tiefpunkt gesunken. Laut einer aktuellen forsa-Umfrage im Auftrag des IKK e.V. ist die
Mehrheit der GKV-Versicherten (57 Prozent) mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung
unzufrieden. Unter den mitten im Erwerbsleben stehenden sogenannten Middle-Agern sind
es mehr als zwei Drittel (68 Prozent), die wenig oder kein Vertrauen mehr in die Fähigkeit
der Politik haben, für eine hochwertige, bezahlbare und nachhaltige Gesundheitsversorgung
zu sorgen.
Die Innungskrankenkassen fordern, dass die Regierung die Finanzierung des
Gesundheitswesens auf solide Beine stellt und dabei die Handlungsfähigkeit der
Selbstverwaltung für ein stabiles Gesundheitssystem stärkt, indem sie ihr mehr Vertrauen
schenkt und mehr Steuerungs- und Lenkungsmöglichkeiten überträgt. Der Erfolg der
Krankenhausreform wird auch davon abhängen, dass die Selbstverwaltung beteiligt wird.
Darüber hinaus muss die Regierung die Digitalisierung des Gesundheitswesens weiter
vorantreiben und auch hier die Handlungsfähigkeit der Kassen stärken.

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Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Das grundlegendste gesundheitspolitische Thema der 20. Legislaturperiode war und ist die
Finanzierung. Obwohl seit langem der Reformbedarf bekannt ist, agierte
Gesundheitsminister Lauterbach wie die Vorgängerregierung mit bekannten Maßnahmen:
Abschmelzung der Kassenvermögen und Anhebung der Zusatzbeiträge.
„Der Handlungsdruck, um auch künftig unser stabiles, leistungsfähiges und hochwertiges
Gesundheitssystem zu erhalten, ist enorm hoch“, erklärt Hans Peter Wollseifer,
Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. „Wir verstehen nicht, warum die seit dem 31. Mai 2023
überfälligen Empfehlungen zur nachhaltigen Finanzierung der GKV noch immer im
Bundeskanzleramt zur Abstimmung liegen.“ Dabei lägen konstruktive Vorschläge auch von den Innungskrankenkassen vor, sagt Wollseifer. Der Vorstandsvorsitzende erläutert die
verschiedenen Bausteine zur nachhaltigen Verbesserung der Finanzierung der GKV: „Die
Nachjustierung und Dynamisierung des Bundeszuschusses für den Ausgleich
versicherungsfremder Leistungen, die Anpassung der Pauschalen für die Bürgergeld-
Beziehenden, die Verbreiterung der Einnahmebasis der GKV durch eine Beteiligung der
GKV an gesundheits- bzw. umweltbezogenen Lenkungssteuern in Form einer Sonderabgabe
sowie die Abkehr vom alleinigen Lohnkostenmodell durch Beteiligung der Digital- bzw.
Plattformökonomie an den Kosten der Sozialversicherung“.
Gerade das Thema Umwandlung von Genusssteuern zu einer „Gesundheitsabgabe“ findet
bei den Versicherten Anklang, hat die repräsentative forsa-Umfrage im Auftrag des IKK e.V.
ergeben. Mehr als 80 Prozent finden eine solche Abgabe gut bzw. sehr gut. „Der Staat
nimmt durch die Tabak- und Alkoholsteuer jährlich über 17 Milliarden Euro ein“, weiß
Wollseifer. „Eine Umwandlung der Steuern in eine Abgabe zugunsten des Gesundheitsfonds
würde die Finanzierung der GKV durchaus schon ein gutes Stück verbreitern.“
Die Innungskrankenkassen haben errechnet, dass alleine mit verschiedenen Maßnahmen
auf der Einnahmenseite insgesamt zusätzlich 33,35 Milliarden Euro dem Gesundheitswesen
zur Verfügung stehen würden. Heruntergebrochen bedeute dies bei einem
Medianeinkommen in Höhe von jährlich 40.740 Euro (2021) eine Einsparung im
Zusatzbeitrag von 810,73 Euro im Jahr (Arbeitgeber-/Arbeitnehmeranteil: 405,36 Euro).
Aber auch für die Ausgabenseite haben die Innungskrankenkassen ein Konzept erarbeitet,
„Wir Innungskrankenkassen zielen in diesem Konzept auf drei Faktoren“, stellt er fest. „Es
geht uns um Steuerungs- und Lenkungsoptionen für die konkrete Versorgung unserer
Versicherten, um eine Stärkung der Finanzverantwortung für Bund und Länder aber auch für
die Leistungserbringer und nicht zuletzt geht es um eine Fokussierung auf Qualität statt auf
Rendite.“
Den Innungskrankenkassen geht es um eine faire Lastenverteilung der
Finanzierungsverantwortung auf alle Akteure und um Hebung von Effizienzreserven,
bilanziert Wollseifer. „Es geht nicht darum, nur mehr Geld ins System zu pumpen!“ Die IKKn
wollen mit ihren Forderungen den Blick weiten auf die verschiedenen Möglichkeiten einer
Entlastung von Versicherten sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. „Dies ist unser
Beitrag für die vom Bundesgesundheitsminister angekündigte Reformagenda zur
Finanzierung der Sozialversicherung“, betont der Vorstandsvorsitzende des IKK e.V.


Digitalisierung im Gesundheitswesen
Dass es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens bislang nicht optimal bestellt
gewesen ist, haben zahlreiche Studien belegt. Insofern wundert es auch nicht, dass aus dem
Handlungsdruck heraus Bundesgesundheitsminister Lauterbach Mitte August die digitale
„Aufholjagd“ ausrief. Der oft zitierte „Digitalisierungsstau“ geht dabei nicht allein auf das
Konto der GKV.

„In Deutschland erschweren zahlreiche Insellösungen eine sektorübergreifende Vernetzung.
Wir haben eine hoch komplexe, bürokratische Systemstruktur verbunden mit
Interessenskonflikten der vielen verschiedenen Akteure“, sagt Peter Kaetsch,
Vorstandsvorsitzender der BIG direkt gesund. Die Behauptung, dass Deutschland bei der
Digitalisierung des Gesundheitswesens weit hinterherhinke, sei also korrekt. „Doch wenn wir
den Blick auf die GKV und die Innungskrankenkassen zoomen, öffnet sich ein differenziertes
Bild. Wir bieten alle unseren Versicherten seit Jahren Online-Geschäftsstellen an, wir haben
die wichtigsten Anträge für unsere Kundinnen und Kunden digitalisiert wie den
Aufnahmeantrag, die Bonusprogramme oder die Beantragung von Krankengeld. Wir bieten
Online-Postfächer und Versorgungs-Apps an und arbeiten mit Chatbots. Wir
Innungskrankenkassen können Digitalisierung, wenn man uns denn lässt“, so Kaetsch
weiter.
Allerdings zeige die forsa-Umfrage, dass vielen Versicherten gar nicht bekannt sei, welche
digitalen Angebote die Krankenkassen anböten. 59 Prozent geben an, eine Service-App
ihrer Krankenkasse zu kennen. Über ein Viertel der gesetzlich Versicherten, genau 29
Prozent, kennt hingegen gar kein digitales Angebot. „Das Ergebnis zeigt uns Krankenkassen
sehr deutlich, dass wir unsere Versicherten viel stärker als bisher über diese digitalen
Möglichkeiten informieren müssen“, sagt Kaetsch.
Großes Potenzial sieht er sowohl im Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) als auch im
Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz –
DigiG). „Die Einführung des Opt-out-Verfahrens in Kombination mit einer vereinfachten
Authentisierung kann der entscheidende Schub sein, damit die elektronische Patientenakte –
kurz ePA – endlich in der Breite bei unseren Versicherten ankommt“, so Kaetsch.
Die IKKn begrüßen auch die verbindliche Einführung des elektronischen Rezepts (eRezept)
Anfang 2024. „Doch wir können nicht nachvollziehen, warum die gematik beim eRezept in
die Rolle des Anbieters bzw. Entwicklers gesetzt wurde. Diese Strategie war schon in der
Vergangenheit nicht erfolgreich, unter anderem wegen einer fehlenden Teststrategie und das
darf sich in Zukunft nicht wiederholen“, erklärt Kaetsch.
Als gut durchdacht beurteilt Peter Kaetsch das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz.
„Endlich können wir die Daten unserer Versicherten nutzen, um sie im Sinne ihrer
Gesundheit zu informieren und zu beraten. Wir können sie gegebenenfalls sogar vor
Gesundheitsgefahren warnen“, sagt er. Die forsa-Umfrage zeige deutlich, dass dies auch die
Versicherten wünschten. „Immerhin 71 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, dass
zur Verbesserung der Versorgung Gesundheitsdaten stärker als heute von den
Krankenkassen genutzt werden sollten“, so Kaetsch.
Für ihn sind die beiden Digitalisierungsgesetze nur der Auftakt, um endlich die Digitalisierung
im deutschen Gesundheitswesen tatsächlich spürbar zu verbessern. „Weitere Initiativen
müssen folgen. Wir Innungskrankenkassen sehen im Versorgungsmanagement noch viel
Digitalisierungspotenzial. Wir sind dafür die richtigen Ansprechpartner“, betont Kaetsch.

Versichertenberatung
Den gesetzlichen Krankenkassen wird in regelmäßigen Abständen vorgeworfen, sie würden
ihre Versicherten in ihren Belangen nicht ernst nehmen oder gar versuchen, sie bzw. ihre
Bedarfe „abzuwimmeln“. Jüngst wurde den Kassen pauschal Irreführung, fiese Trickserei
und Täuschung bzw. Belästigung ihrer Versicherten unterstellt. Dabei zeigt der aktuelle M +
M Versichertenmonitor: 82 Prozent bezeichnen sich als „zufrieden“ oder sogar „sehr
zufrieden“ mit ihrer Krankenversicherung. Stolze 85,9 Prozent der gesetzlich Versicherten
beantworten die Aussage „Ich werde auch weiterhin bei meiner Krankenkasse versichert
bleiben“ mit „trifft völlig zu“ oder „trifft zu“.
Auch die forsa-Umfrage des IKK e.V. rückt die Rolle der Krankenkassen bei der
Versichertenberatung in ein anderes Licht. Die Frage „Einmal angenommen, Sie haben eine
medizinische oder gesundheitliche Frage. An wen würden Sie sich wenden? Wer hat Ihrer
Meinung nach die größte Kompetenz, Ihre Frage fundiert und für Sie zufriedenstellend zu
beantworten?“ brachte zwar ein zunächst wenig überraschendes Ergebnis: Fast alle (93
Prozent) würden sich an ihren Haus- oder Facharzt wenden, vergleichsweise häufig, nämlich
17 Prozent, würde man auch „Dr. Google“ oder Familie, Freunde und Bekannte (16 Prozent)
fragen. Aber fast jeder Zehnte würde sich bei Beratungsbedarf auch an seine Krankenkasse
wenden. Die Unabhängige Patientenberatung Deutschlands (UPD) oder das Nationale
Gesundheitsportal rangieren demgegenüber mit 3 bzw. 2 Prozent bundesweit unter ferner
liefen.
„Die Innungskrankenkassen können und wollen ihre Versicherten beraten“, weiß auch Hans-
Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. und untermauert das mit Zahlen: „Die
Innungskrankenkassen haben 2021 im Bereich der Krankenversicherung über 4,7 Millionen
Leistungsanträge bearbeitet. Einspruch gegen eine Entscheidung wurde aber nur in 26.000
Fällen eingelegt. Diese Einsprüche wurden zum einen von den Fachabteilungen noch einmal
überprüft und, wenn es nicht zu einer Einigung kam, an die Widerspruchsausschüsse
weitergeleitet. Insgesamt konnte 40 Prozent der Widersprüche abgeholfen werden.“
Hingegen habe beispielsweise die UPD laut Jahresbericht 2022 bundesweit nur ca. 123.000
Beratungen insgesamt durchgeführt. Beratungen zu Leistungsansprüchen machten dabei
rund 40 Prozent aller rechtlichen Beratungen und beliefen sich insgesamt also nur auf
26.600 Fälle über alle Krankenkassen hinweg, so Müller.
Müller bemängelt aber nicht nur, dass auf Basis von Einzelfällen auf das Gesamtsystem
geschlossen wird. Er verweist darauf, dass es bislang aus dem Beratungsgeschäft der UPD
keine Rückmeldung an die betroffenen Krankenkassen gegeben habe – datenschutzrechtliche
Aspekte hätten dies verhindert. „Damit ist das Beratungsangebot der UPD aus
Sicht der Krankenkassen aber ein toter Briefkasten. Das haben wir schon immer kritisiert. In
der Öffentlichkeit wird aber der Eindruck erweckt, als würde die UPD die
Widerspruchsausschüsse ersetzen. Das ist aber keinesfalls zutreffend!“ Die Arbeit der
Widerspruchsstellen sei eine ureigentliche Aufgabe der Selbstverwaltung in der GKV: Es
gehe darum, das konkrete Kassengeschäft zu hinterfragen und zu überprüfen und darum,
Fallstricke in den gesetzlichen Regelungen aufzudecken. „Beides ist in den Händen der
Selbstverwaltung gut aufgehoben!“, so der Vorstandsvorsitzende.

Niemand habe etwas gegen eine unabhängige Beratung, betont Müller, im Gegenteil. Es sei
die Aufgabe der UPD, allgemeine Beratungen durchzuführen. „Darin liegt auch ihre
gesamtgesellschaftliche Bedeutung“, betont Müller. „Aus unserer Sicht wäre es deshalb auch
angezeigt gewesen, die UPD als Bundesstiftung zu errichten und neutral und unabhängig
aus dem Bundeshaushalt zu finanziert!


Appell an die Politik
Die Innungskrankenkassen wollen mit der Diskussion dieser drei Kernthemen den Blick auf
die notwendige Reformagenda schärfen und mit ihren Konzepten ihren Teil dazu leisten, das
Gesundheitssystem solidarischer, gerechter und versorgungsstärker zu machen. „Es ist
dringend erforderlich, die verbleibende zweite Halbzeit der Legislaturperiode zu nutzen,
konkret die Reformagenda anzugehen und die drängenden Probleme im Gesundheitswesen
nachhaltig zu lösen“, fordern die beiden Vorstandsvorsitzenden des IKK e.V. ebenso wie der
Vorstandsvorsitzende der BIG direkt gesund.