„Rund ums Impfen kursieren noch immer zu viele Mythen und Falschmeldungen“, kritisiert Dr. Anja Kwetkat (Foto), Leiterin der Arbeitsgruppe Impfen der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und Direktorin der Klinik für Geriatrie am Universitätsklinikum Jena. Eine Folge sei, dass sich immer weniger Menschen gegen die Influenza-Viren schützen, die im Winter und Frühjahr Hochsaison haben. Infektionen mit Grippeviren können bei älteren Menschen tödliche Folgen haben, wenn nicht gezielt geimpft wird. Menschen über 60 Jahre sind dabei besonders gefährdet: 90 Prozent der Grippe bedingten Todesfälle entfallen auf diese Altersgruppe. Die aktuellen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) berücksichtigen nach Einschätzung der DGG die Bedürfnisse älterer Patienten nach wie vor nicht ausreichend. Im Interview spricht Anja Kwetkat über die Probleme der STIKO-Empfehlung, gibt Rat zum Grippeschutz für Ältere und enttarnt sich hartnäckig haltende Impf-Mythen.
Frau Dr. Kwetkat, wie sieht es mit der Impf-Bereitschaft der Deutschen konkret aus?
Ehrlich
gesagt beobachten wir seit Jahren eine zunehmende Zurückhaltung in der
Bevölkerung bei der Grippeimpfung. In der Grippe-Saison 2018/19 kam es
erstmals wieder seit Jahren zu einem leichten Anstieg der Impfquoten um
ein bis vier Prozent, je nach Bundesland. Während die westlichen
Bundesländer nur eine Impfquote von circa 30 Prozent in der
Grippe-Saison 2016/17 erreichten, lag diese für die östlichen
Bundesländer bei immerhin gut 50 Prozent. Zum Vergleich: Die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt eine Quote von 75 Prozent,
die in England, Schottland und Nordirland in den vergangenen Jahren nur
knapp verfehlt wurde.
Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung in Deutschland?
Das
hat ganz unterschiedliche Ursachen. Es hält sich zum Beispiel
hartnäckig der Mythos, dass die Influenza-Impfung nur etwas für ältere
Menschen sei. Die sind zwar besonders betroffen, aber auch junge
Patienten sind nach der Ansteckung in der Regel arbeitsunfähig. Zudem
wird kolportiert, dass die Grippe-Impfung zu teuer sei und selbst
bezahlt werden müsse. Tatsächlich gibt es hier unterschiedliche
Regelungen bei den Krankenkassen. Manche übernehmen die Kosten, andere
verlangen eine Zuzahlung, wenn der Patient nicht zu einer der Gruppen
gehört, für die die Grippe-Impfung durch die STIKO ausdrücklich
empfohlen wird. In diesen Fällen wird die Impfung immer von der
Krankenkasse übernommen.
Und was machen die Engländer anders?
Es gibt in
England seit 2013 ein Programm zur Impfung von Kindern – unabhängig von
Risikofaktoren. Die Idee ist, einerseits den Individualschutz der Kinder
zu verbessern, andererseits aber auch die Übertragung der Influenza zu
reduzieren. Ansonsten ist auch dort die Impfung altersunabhängig
Menschen mit chronischen Krankheiten, Schwangeren, Senioren,
Pflegeheimbewohnern und Arbeitskräften in Gesundheitsberufen empfohlen.
Aber gerade die Empfehlung für die Kinder macht die Impfung präsenter in
den Köpfen aller. Das hilft möglicherweise, die Impfraten insgesamt zu
steigern, eben auch die der älteren Erwachsenen, der chronisch Kranken
oder der Beschäftigen in Gesundheitsberufen.
Es hält sich auch das Gerücht, dass die verwendeten Impfstoffe die sich ständig verändernden Viren gar nicht treffend bekämpfen.
Richtig
ist, dass sich die Influenza-Viren ständig durch kleinere Mutationen
verändern. Daher ist auch ein jährlich wiederholter Grippe-Schutz
notwendig. Bei Tetanus erfolgt die Routine-Auffrischung hingegen nur
alle zehn Jahre. Traditionell erleben wir zwischen Dezember und Februar
eine regelrechte Grippewelle. Die Impfstoffe auf Basis der Empfehlungen
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden aber schon etwa ein halbes
Jahr davor hergestellt. In der Zwischenzeit kann es daher zu
Veränderungen der kursierenden Grippeviren kommen. Die Schutzwirkung
kann daher von Jahr zu Jahr und in Abhängigkeit des jeweiligen
Virusstamms sehr unterschiedlich sein. Bei sehr guter Übereinstimmung
der zirkulierenden Viren mit dem Impfstoff kann die Wirksamkeit bei
jungen Erwachsenen bei bis zu 80 Prozent liegen, bei älteren Menschen
ist diese niedriger. Es kommt daher häufiger als bei Jüngeren zu einer
Erkrankung trotz Impfung, diese verläuft aber weitaus milder und bietet
somit immer noch einen relevanten Schutz.
Im vergangenen Jahr wurde vielerorts der Impfstoff knapp. Zu welchen Problemen kann das führen?
Landesweit
betrachtet war der Influenza-Impfstoff zunächst gar nicht knapp – er
war nur falsch verteilt und das musste umorganisiert werden.
Möglicherweise haben sich mehr Menschen bereits früher impfen lassen.
Das könnte zu der Verknappung geführt haben, da in der letzten Saison
zum selben Zeitpunkt tatsächlich weniger Impfstoffdosen bereitstanden
als im Vorjahr. Ein gestiegenes Interesse an der Impfung durch die
Eindrücke der Grippewelle 2017/18 hat ebenfalls eine Rolle gespielt.
Problematisch war allerdings wohl auch die geänderte Empfehlung der
Ständigen Impfkommission auf einen quadrivalenten Grippeimpfstoff. Da
somit der alte trivalente Impfstoff nicht mehr empfohlen war, wurden
weniger Impfstoffdosen produziert und geliefert, was bei der gestiegenen
Nachfrage dann insgesamt zu einer Verknappung führte. Aufgrund der
knappen Vorlaufzeit der Produktion und auch der Produktionsart über
Hühnereier ist der Grippeimpfstoff nicht kurzfristig nachproduzierbar.
In diesem Jahr sollte sich aber ein solcher Engpass eher nicht
wiederholen, wie auch das Paul-Ehrlich Institut, das
deutsche Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel,
versichert.
Aber wie schaffen es andere Länder, in diesen Punkten besser zu sein?
Viele
Länder haben da ganz pragmatische Vorschriften, wie beispielsweise die
USA: Wer sich als Krankenschwester oder Arzt nicht jährlich gegen
Influenza impfen lässt, muss zur Grippe-Saison während der gesamten
Schicht eine Atemschutzmaske tragen. Das ist so anstrengend und
unangenehm, dass die Impfrate des Personals dort bei fast 100 Prozent
liegt.
Wann genau ist der richtige Zeitpunkt für die Grippeimpfung?
Am
besten ist es, sich gleich im Oktober oder November impfen zu lassen.
Nach zehn bis 14 Tagen hat der Körper dann einen ausreichenden Schutz
vor Ansteckung aufgebaut, der auch über die gesamte Grippe-Saison hält.
Aber auch im Dezember oder Januar ist die Impfung noch immer sinnvoll,
denn auch dann ist die Ansteckungsgefahr noch immer sehr hoch. Ältere
sollten sich jedoch nicht zu früh impfen lassen, da bei ihnen die
Antikörpertiter schneller abfallen können und dann möglicherweise nicht
mehr ausreichend sind, wenn die Grippewelle ihren Höhepunkt
üblicherweise Anfang des Jahres erreicht. Eine Impfung erst im November
ist somit sinnvoll.
Warum ist der Grippeschutz für Ältere lebensnotwendig?
Eine
durch Influenza-Viren verursachte Infektion kann für ältere Patienten
tödlich verlaufen. Eine Grippe kann durch verschiedene Influenza-Viren
verursacht werden. Typisch ist ein plötzlicher Beginn mit oft hohem
Fieber über 38,5 Grad, trockenem Husten ohne Auswurf, Halsschmerzen,
Appetitlosigkeit sowie starke Kopf- und Gliederschmerzen. Gerade ältere
Menschen brauchen oft sehr lange, bis sie sich von der Infektion erholt
haben.
Was spricht eigentlich dagegen, sich im Abstand von ein paar Wochen zweimal impfen zu lassen?
In
der Kindermedizin wird dies erfolgreich gemacht. Kinder bis zum
vollendeten neunten Lebensjahr, die noch nie gegen Grippe geimpft
wurden, sollten nach einem Zeitraum von mindestens vier Wochen eine
zweite Dosis bekommen. Dies bestätigen auch entsprechende Studien. Eine
solche Studie gibt es bei älteren Patienten nicht. Noch effektiver und
in Studien auch belegt ist aber, speziell für ältere Menschen direkt
eine höhere Dosis Antigen zu verabreichen. Mit einer vierfachen
Antigen-Dosis wird bei Patienten ab 65 Jahren ein besserer Schutz vor
einer Influenza-Erkrankung erreicht. Menschen über 85 Jahren profitieren
besonders von dem erhöhten Antigen-Gehalt: Bei ihnen führt die Impfung
mit dem Hochdosisimpfstoff zu weniger Krankenhausaufnahmen wegen
Influenza und Pneumonien.
Eine Grippe erscheint vielen Menschen als unangenehm, aber harmlos. Worin liegt das Sterberisiko?
Hierfür
gibt es mehrere Gründe: Oft kommt es gerade bei unterernährten
Patienten oder bei Menschen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes
mellitus zu einer bakteriellen Superinfektion, die dann zu einer
Lungenentzündung führt. Davon können übrigens auch junge Patienten
betroffen sein. Bei der Untersuchung von Todesfällen werden in Lunge und
Blut immer wieder Pneumokokken-Bakterien entdeckt, die unter anderem
Blutvergiftungen verursachen können. Weniger bekannt ist, dass eine
Influenza-Infektion das Risiko massiv erhöht, während der Erkrankung
einen Herzinfarkt zu bekommen oder auch einen Schlaganfall zu erleiden.
Eine Grippeimpfung kann also vor einem Herzinfarkt schützen?
Ganz
genau, sozusagen eine Impfung gegen Herzinfarkt. Eine wissenschaftliche
Studie mit Herzinfarkt-Patienten hat ergeben, dass eine
Grippeschutzimpfung direkt nach der Herzkatheter-Untersuchung das Risiko
eines erneuten Infarktes deutlich senkt.
Wer sollte sich neben den Senioren als Hochrisikogruppe noch gegen Influenza impfen lassen?
Vor
allem Menschen mit chronischen Erkrankungen, zum Beispiel Diabetiker,
Patienten mit Niereninsuffizienz, Herzkrankheiten oder
Lungenerkrankungen. Ganz wichtig und leider oft vergessen: Sämtliche
Personen, die mit alten Menschen zusammen sind und sie betreuen. Das
sind Angehörige wie der junge Enkel, das Pflegepersonal in Heimen und
bei ambulanten Diensten, aber natürlich auch Ärzte. Weil sich die
Grippeviren immer wieder verändern, ist jedes Jahr eine erneute Impfung
notwendig. Leider ist auch die Durchimpfungsrate von medizinischem
Personal in Deutschland im internationalen Vergleich sehr niedrig.
Gibt es zum altersabhängigen Virenschutz auch verschiedene Impfstoffe?
Ja,
weil normale Grippeimpfstoffe das Immunsystem älterer Menschen weniger
Antikörper bilden lässt, ist für Patienten ab 65 Jahren in Deutschland
ein spezieller Impfstoff mit einem Wirkungsverstärker zugelassen. Dieser
wird in England auch für den Einsatz bei über 65-Jährigen empfohlen. Es
gibt auch einen Impfstoff, der intradermal – also in die Haut –
gespritzt wird und einen, der einen viermal höheren Antigen-Gehalt
beinhaltet. Beide führen zu einer verstärkten Immunantwort, sind
allerdings in Deutschland nicht zu haben. Der Impfstoff „Intanza“ wird
in Deutschland nicht mehr vertrieben, der Hochdosisimpfstoff ist bisher
bei uns noch nicht zugelassen.
Was kritisieren Sie an den Empfehlungen der Impfkommission?
Das
Problem der STIKO-Empfehlungen ist, dass sie an entscheidender Stelle
nicht auf die Besonderheiten älterer Menschen eingehen. Bei denen wirken
die üblichen Standardimpfstoffe weniger gut als bei Jüngeren und
Gesunden. Wir würden uns wünschen, sich hier zum Beispiel die Engländer
als Vorbild zu nehmen, die bereits in der vergangenen Grippe-Saison den
ajduvantierten – also wirkverstärkten – Impfstoff für die über
65-Jährigen empfohlen haben. Erste Daten zeigen auch eine deutlich
bessere Wirksamkeit im Vergleich zu den Älteren, die mit anderen
Grippeimpfstoffen versorgt wurden. Hier sollten die STIKO-Empfehlungen
dringend nachgebessert werden.
Aktuelle Impf-Empfehlungen erhalten Hausärzte auf der Webseite der DGG-Arbeitsgruppe Impfen. Die AG hat die aktuellen STIKO-Impfempfehlungen unter geriatrischen Gesichtspunkten zusammengestellt.